Unsere Geschichte
Autorin: Sylvia Cultus
Es war einmal.
Ja, es war einmal, so fangen alle Märchen an, das weiß ja jedes Kind.
Und Märchen sind so was wie Träume und gar nicht so richtig wirklich.
Aber manchmal werden Träume wahr.
Und da beginnt unsere Geschichte.
Es war einmal eine Frau, die hatte lange dunkle Haare und blaugrüne Augen.
Sie hatte zwei Kinder - einen Jungen und ein Mädchen.
Die Frau suchte Arbeit.
Weil, man braucht ja eine Arbeit,
um Essen kaufen zu können
und
wohnen zu können
und
um ein Motorrad zu fahren
und, und, und,
all sowas.
Also, die Frau suchte eine Arbeit, bei der sie mit Kindern spielen, malen und basteln konnte.
In einem Stadtteil ihrer Heimatstadt gab es viele Hochhäuser. In den Hochhäusern lebten eine Menge Kinder mit ihren Familien. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Ländern der Erde und hatten verschiedene Sprachen.
Viele Kinder langweilten sich. Und weil sie sich langweilten, machten Sie irgendwelche Sachen kaputt. Kratzer in Autos ritzen, Papier in Mülltonnen anzünden, Briefkästen verbiegen, Pflanzen aus Grünanlagen raus reißen, mit Einkaufswagen aus dem großen Supermarkt Laternenpfähle krumm fahren, Hauswände voll kritzeln und, und, und - na ja, und manche Kinder haben sich auch oft mit anderen Kindern richtig heftig gehauen - einfach, um mal Wut los zu werden.
In diesem Stadtteil also wollte die Frau arbeiten, damit es den Kindern nicht mehr so langweilig ist. Denn, wenn man was Schönes zu tun hat, braucht man nicht wütend zu sein und Sachen anderer Leute kaputt zu machen.
Zuerst bekam die Frau eine Erdgeschosswohnung in einem der Hochhäuser. Dafür brauchte sie auch nix an Miete zu bezahlen. Denn, die große Firma, der die Hochhäuser gehören, wollte auch, dass die Kinder einen Platz zum Spielen bekommen.
Da war nun die leere Wohnung - noch kein Spielzeug, keine Möbel, keine Malstifte, oh, je! Und ganz allein! Da bekam die Frau mit den blaugrünen Augen ein bisschen Angst. Aber, was für ein Glück! Es fand sich eine Frau mit großen braunen Augen, lockigem schwarzen Haar und einem wunderschönen Lachen. Die konnte tanzen, kannte tolle Spiele und tobte gern mit den Kindern.
Zusammen haben die Zwei dann angefangen, einen Treff für die Kinder einzurichten."NaDu" - ja, so sollte der heißen - "NaDu Treff ".
Jetzt gabs viel zu tun! Und weil die Kinder sich so freuten, dass die Frauen Zeit für sie hatten, halfen sie fleißig mit. Suchten Möbel, die man noch gut gebrauchen konnte, putzen Fenster und wischten Fußböden.
Ein paar Eltern wurden neugierig, brachten Kuchen und Kekse.
Und haste nicht geseh'n - da war die Wohnung immer voll. Mit Kindern, die kochten, tanzten, malten, sich stritten und wieder vertrugen, zusammen spielten oder Schulaufgaben machten. Da kamen Mütter mit ihren Babys, wollten erzählen und sogar was Neues lernen.
Und - haste nicht gesehn - fand sich eine Lehrerein, die richtete im Treff eine Sprachschule für die Großen ein. Da konnten die dann was Neues lernen.
Aber die Wohnung war klein. Und Kinder kamen immer mehr - große, kleine und ganz kleine. Und Eltern kamen auch immer mehr.
Das war laut und toll und wild und eng. Puh! Da setzte sich die Frau mit den langen dunklen Haaren und den blaugrünen Augen hin und dachte nach: "Wir brauchen ein Haus - ein Haus zum Spielen mit mehr Platz und genau in der Mitte zwischen all den Hochhäusern."
Aber, um ein Haus bauen zu dürfen, muss man wichtige Leute um Erlaubnis fragen. Wenn man ein Haus bauen will, braucht man einen Architekten, der das alles aufmalen und planen kann. Man braucht viele Bauleute, die das Haus bauen. Und man braucht Geld - viel Geld, um ein Haus zu bauen. Die Frau hatte kein Geld, keinen Architekten, keine Bauleute und sie kannte keine wichtigen Leute!
Was tun? Zauberfee?
Nee, gibt s ja nicht. Jedenfalls kannte sie keine. "Am besten, ich erzähle meine traumhafte Idee allen Menschen, die ich hier kenne", dachte die Frau. Gedacht - getan! Und haste nicht geseh'n - da hatte sie so was wie eine Zauberkugel ins Rollen gebracht. Bald wussten es alle: die Kinder, die Eltern, die Firma, der die Hochhäusern gehörten, alle, die in den Hochhäsuern wohnten, der Bürgermeister und die Politiker im Rathaus. Und stellt euch vor: die fanden die Idee ganz toll. Ein Haus für Kinder! Ein Kinderhaus! Und ihr müsst wissen: Kinder sind ein ganz besonderer Schatz. Und für Schatzkinder tun die Erwachsenen gerne was.
Da kam Hilfe von überall her: vom Sozialarbeiter und dem Verein des Stadtteils, von Bürgermeister, von der Firma, der die Hochhäuser gehörten und von den Politikern im Rathaus. Ein Architekt bot seine Hilfe an.
Fehlte noch das Geld. Da schrieb die Frau mit den langen, dunklen Harren und den blaugrüne Augen viele Briefe an Firmen, die viel Geld hatten, an die Stadtverwaltung, an reiche Leute. Sie schrieb von der Idee und fragte, ob sie Geld für das Kinderhaus geschenkt bekäme.
Sie lud Leute ein, redete hier, erzählte da, malte den Traum vom Kinderhaus. Und haste nicht gesehn - da war es wie Weinachten!
Die Frau kannte wichtige Leute, die was erlauben durften, die Frau hatte einen Architekten, hatte Bauleute und hatte Geld und viele, viele andere Menschen, die ihr halfen. Jetzt konnte es losgehen. Große Kinder buddelten und schaufelten den Boden frei, auf dem das Haus stehen sollte.
Das erste Fest wurde gefeiert, als der Oberbürgermeister den Grundstein für das Haus legte. Und alle wichtigen Leute waren da und sogar das Fernsehen. Und die Kinder haben für alle gesungen und lecker zu essen gab`s auch.
Dann kamen die Bauleute und sägten und hämmerten Tag und Nacht. Und der Architekt lief wichtig hin und her. Schon wurde das zweite Fest gefeiert, das Richtfest.
Bitterkalt war's. Das Haus war fast fertig. Eltern halfen beim Anstreichen und Gardinen nähen.
Und an einem wunderschönen, sonnigen Maitag - haste nicht geseh'n - da war es soweit!
Das "NaDu" Kinderhaus leuchtete goldblau in der Sonne und seine Glaskuppel strahlte wie ein Diamant und rundherum staunten die grauen Hochhausreihen.
Ein wirklich großes Fest wurde gefeiert. Ein kleines Mädchen in rotsamtenem Kleid und goldbestickter Mütze reichte dem Landtagspräsidenten auf einem goldroten Samtkissen eine Schere zur Eröffnung des Hauses für die Kinder. Es gab schöne Reden für das schöne Kinderhaus. Es gab Blumen und Geschenke. Es gab eine riesige Torte und viel leckeres Essen. Es gab Trommelmusik und Tanzaufführungen von den Kindern. Es gab Ponys zum Reiten und Dias zum Angucken. Die Hochhausbewohner aus den Ländern hatten viel zu sehen und viel Spaß an diesem Tag.
Und die Leute von der Zeitung und vom Radio waren da, damit die ganze Stadt erfuhr: "Das NaDu - Kinderhaus ist da!"
Und wenn sie nicht gestorben ist, dann spielt die Frau mit den langen, dunklen Haaren und den blaugrünen Augen noch heute mit den vielen Kindern aus aller Welt im goldblauen Kinderhaus mit der diamantstrahlenden Glaskuppel und denkt sich neue Träume aus.